Die Künstliche Intelligenz hält Einzug in immer mehr Bereiche des Lebens. Dabei gilt eine einfache Formel: Je komplexer eine Aufgabe ist, desto grösser ist das Potenzial, das durch den gezielten Einsatz von KI gehoben werden kann. „Bei Porsche Engineering haben wir schon sehr früh mit der Integration von KI-Anwendungen in unsere Entwicklungsprozesse begonnen. So konnten wir uns durch Pilotprojekte von den grossen Potenzialen überzeugen, die sich ergeben, wenn wir klassische Entwicklungsmethoden mit moderner KI verknüpfen“, erklärt Dr. Joachim Schaper, Leiter Fachdisziplin KI und Big Data bei Porsche Engineering.
Lernen durch permanentes Feedback
Erfahrungen mit der Integration moderner KI-Anwendungen in den Entwicklungsprozess hat Porsche Engineering unter anderem bei einer universellen Applikationsstrategie für Verbrennungsmotoren, für die Schwingungsdämpfung im Antriebsstrang eines E-Fahrzeugs und bei der Entwicklung der Crash-Struktur eines Seitenschwellers gesammelt. Bei diesen Projekten bedienten sich die Entwicklerinnen und Entwickler des KI-Verfahrens Reinforcement Learning (RL). Dabei interagiert ein virtueller Agent mit einer Umgebung und lernt durch Feedback permanent hinzu – indem er für Aktionen, die zu einem guten Ergebnis führen, mit Bonuspunkten belohnt und bei Misserfolgen mit Abzügen bestraft wird. Das in der Trainingsphase notwendige Feedback für den RL-Agenten liefert ein neuronales Netz.
„Aufgrund der hervorragenden Ergebnisse mit den KI-Methoden – die Ergebnisse liegen in der Regel nach wenigen Sekunden vor, im Gegensatz zu Stunden bei einer klassischen Simulation – arbeiten wir daran, KI künftig in der Breite einzusetzen und als festen Baustein in unseren Entwicklungsprozessen weiter zu etablieren“, sagt Schaper. Ein weiteres Beispiel für die KI-Offensive bei Porsche Engineering ist die Auslegung von Rückhaltesystemen im Bereich der passiven Sicherheit. Bei einem Crash müssen diese Komponenten optimal auf das Fahrzeug abgestimmt sein. Nur so können sie die maximale Schutzwirkung für die Insassinnen und Insassen entfalten. Dazu werden beispielsweise die Rückhaltekräfte des Gurtes mit der Wirkung des Airbags abgestimmt.
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„Alle Komponenten stehen in Wechselwirkung zueinander und müssen bei einer Optimierung im Gesamtsystem betrachtet werden. Ausserdem ist eine grosse Anzahl von Lastfällen zu berücksichtigen. Das macht die Entwicklung der passiven Sicherheit äusserst komplex und aufwendig“, erklärt Michael Di Roberto, Leiter CAE und Fahrzeugsicherheit bei Porsche Engineering.
Crash-Simulationen von bis zu 72 Stunden
Die schon bei der Seitenschweller-Optimierung bewährte KI-Methode wurde für die Auslegung der Rückhaltesysteme weiterentwickelt. „Beim ersten Projekt stand das Training des Agenten im Vordergrund, wobei sich das grosse Potenzial der angewandten Methodik zeigte. Daher soll die KI nun künftig im Serienentwicklungsprozess für Rückhaltesysteme eingesetzt werden“, so Schaper. Um dies zu erreichen, wurde der Agent nach dem erfolgreich abgeschlossenen Training mit einem klassischen Simulationswerkzeug verknüpft. Dieses basiert auf der Finite-Elemente- Methode (FEM), die zwar genaue Ergebnisse liefert, deren Nutzung jedoch sehr zeitaufwendig ist: Eine Crash-Simulation mit den heutigen Modellgrössen kann bis zu 72 Stunden dauern. Dank der vorgelagerten Selektion des RL-Agenten werden erheblich weniger FEM-Rechnungen benötigt, um zum passenden Ergebnis zu kommen, was die Kosten und den Zeitaufwand verringert.
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„Bei einer konkret durchgespielten Entwicklungsaufgabe konnten wir die Anzahl der notwendigen FEM-Rechenschleifen um 80 Prozent reduzieren“, sagt Janis Mathieu, Doktorand bei Porsche Engineering. „Unsere Vision: In Zukunft sollen effiziente und automatisierbare Konzepte, bei denen Ingenieurinnen und Ingenieure mehrere Agenten lediglich überwachen müssen, den Entwicklungsprozess nachhaltig beschleunigen.“
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Der Systemreifegrad steigt infolgedessen insgesamt an, sodass die Anzahl aufwendiger physischer Crashtests reduziert wird und sich die Zahl der benötigten Prototypenfahrzeuge verringern lässt. „Langfristig werden wir noch weitere Effizienzpotenziale heben können, da künftige Produktgenerationen auf Basis der vorangegangenen Generationen optimiert werden“, sagt Di Roberto. Die einmal erlernte Entscheidungsstrategie des RL-Agenten lässt sich flexibel auf neue Modellvarianten übertragen, solange die Grundaufgabenstellung vergleichbar ist.
„Neben der Zeit für den Lernprozess könnte so in Zukunft auch der Aufbau ganzer FEM-Submodelle eingespart werden.“Einen weiteren Zeitgewinn bei der Entwicklung passiver Sicherheitssysteme bewirkt die Nutzung Künstlicher Intelligenz bei der Aufbereitung von Simulationsdaten im sogenannten Post-Processing. „Moderne Simulationswerkzeuge berechnen einen Crash mit einem sehr hohen Detailgrad. Dabei fallen allerdings auch sehr viele Daten an, die von den Ingenieurinnen und Ingenieuren interpretiert werden müssen“, so Di Roberto. War die Künstliche Intelligenz bei den bis her von Porsche Engineering verfolgten KI-Projektenden Simulationsschritten vorgelagert, so wird sie beim Post-Processing erst nach der Simulation eingesetzt. Dabei kommt ein sogenannter Explainable-AI-Algorithmus zum Einsatz. Dieser hat die Aufgabe, komplexe Zusammenhänge in einem Datensatz zu erkennen und der Entwicklerin oder dem Entwickler sichtbar zu machen. Abhängigkeiten können lokal (auf Simulations-) und global (auf Datensatzebene) bestimmt werden. Damit gibt die KI den Entwicklungsingenieurinnen und Entwicklungsingenieuren eine Hilfestellung bei der Interpretation der Simulationsergebnisse.
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„Durch den Einsatz von Explainable AI erhält die Ingenieurin oder der Ingenieur einen Kompass in die Hand, mit dem er sich im immer komplexeren und umfangreicheren Datensatz moderner Simulationen zurechtfinden kann“, erklärt Mathieu. Ein Beispiel, wo eine solche Datenmenge anfällt, sind Robustheitsuntersuchungen in der passiven Fahrzeugsicherheit. Stefan Kronwitter, Doktorand bei der Porsche AG im Bereich Entwicklung Karosseriesystem, Schwerpunkt Fahrzeugsicherheit, forscht mit Janis Mathieu an dem Einsatz von Explainable-AI-Methoden zur Analyse von Crash-Simulationen. „Durch Explainable AI lassen sich in kurzer Zeit diejenigen Einflussgrössen bestimmen, die innerhalb einzelner Simulationen auffälliges Verhalten verursachen“, sagt Kronwitter.
Ergänzung zu den FEM-Simulationen
Eine erste Version der Explainable-AI-basierten Analyse wird zum aktuellen Zeitpunkt bei Porsche Engineering in die Serienprozesse der Crash-Berechnung integriert, weitere Einsätze sollen folgen. „Mit Explainable AI wird die Voraussetzung für die Optimierung aller Systeme geschaffen, für die ein tiefes Systemverständnis notwendig ist, neben der passiven Sicherheit sind das beispielsweise auch Parameterstudien für Leichtbau oder Fahrdynamik“, sagt Schaper. Trotz aller Fortschritte im Bereich KI gilt aber: FEM-Simulationen werden auch in Zukunft essenzieller Bestandteil des Entwicklungsprozesses bleiben. Durch die Digitalisierung der Prozesse und die Komplexität der Systeme wird mehr und genauer simuliert, was die Unterstützung durch KI auch an dieser Stelle unausweichlich macht. „Porsche Engineering hat ein tiefes Verständnis für Serienentwicklungsprozesse und -methoden und beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit der Entwicklung und Anwendung von KI-Methoden“, erklärt Schaper.
Info
Text erstmals erschienen im Porsche Engineering Magazin, Ausgabe 2/2024.
Text: Richard Backhaus
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